Montagmorgen in Gießen

Seltersweg, Blick auf Kreuzplatz und Bäckerei Kamps
Seltersweg, Blick auf Blume 2000, Stele mit Hornveilchen

Montagmorgen um halb neun im Seltersweg: Bäckerei Kamps am Kreuzplatz, der einzige Laden außer Blume 2000, der geöffnet hat. Innen bin ich der einzige Gast. Die Kunden tröpfeln herein. Es ist kalt und neblig trüb. Die wenigen Passanten tragen eine Mütze oder tief in die Stirn gezogene Kapuzen. Eine Radfahrerin, ein Mann mit Hund, eine Schülerin, etliche Studierende. Die Zufahrt zum Neuenweg nach links ist gesperrt. Ein paar Leute um die 20 Jahre auf einmal. “Sind die Brötchen vegan?” – Die Verkäuferin erzählt einer Stammkundin, was alles teurer geworden ist. Ich bitte darum, die Außentür zu schließen. “Wir dürfen die Tür nicht schließen, sonst kommt kein Mensch mehr. Und wenn die Tür zu ist, reißen sie uns die Klinke ab!” meint der Verkäufer. Gerade erst im letzten Dezember geschehen.
Auf der Theke steht ein Korb mit bunten Eiern. Eine sehr fröhliche Kundin ist interessiert: 2,00€ pro Stück. Was kostet der 6er-Pack bei Aldi? “Ich mag keine blauen Eier”, sagt die Verkauferin, “rote, gelbe, orangene ja.” Die fröhliche Kundin meint “aber wenn man den Preis für Zigaretten berücksichtigt… Mein Kollege isst nur Fertiggerichte. Ich brauche für mich 55,00€ pro Woche.” – Vorm Fenster sehe ich einen jungen Mann, der versucht, seinen Hund zu erziehen, durchaus erfolgreich.
Eine Schülerin kauft drei Teilchen für insgesamt 4,77€ und zahlt mit EC-Karte. Ein junger Handwerker nimmt Platz, hat eine Staubmaske auf die Haare geschoben. Er ist gehbehindert. – Noch ein Geschäft scheint geöffnet zu sein, jemand marschiert strammen Schrittes mit fünf Packungen Küchenrollen vorbei.
Gleich 9.00 Uhr, die Anzahl der Passanten hat sich vervielfacht. Zwei Zulieferautos biegen rechts in den Neuenweg. “So schmeckt Frühling” wirbt Kamps vorm Fenster für Berliner, Rüblikuchen und Glücksstuten. Wer den Kopf auf 3m Höhe dreht, kann den Frühling sehen, den das Stadtgartenamt in die Hängetöpfe an den Stelen gepflanzt hat: Viele Hornveilchen. Schade dass man in dieser Höhe ihren Duft nicht wahrnehmen kann!
Ein Postler in Arbeitskleidung läuft vorbei, ein junges Paar mit Kind auf dem Arm. Die ersten Schneeflocken fallen auf den LKW von Dachser Logistics. Die Plane in sonnigem Gelb gegen das überwiegende Schwarz der Kleidung. Zwei Frauen mit Regenschirmen. Ein blinder Mann tastet sich erst über den Seltersweg, dann über den Neuenweg. Viele Hindernisse gibt es (noch) nicht. Eine junge Frau (Studentin?) mit Kinderwagen, das Kleine etwa ein Jahr alt, sitzend. Ein junger Mann mit Rollkoffer kommt aus Richtung Bahnhof. Drei Kunden gleichzeitig im Laden, das ältere Paar bestellt Frühstück und nimmt mir gegenüber Platz. Links von mir hängt über den Seltersweg noch die Weihnachtsbeleuctung, allerdings ausgeschaltet. Der zweite Kinderwagen. Ein Afrikaner mit leuchtend roter gesteppter Jacke und weißer Mütze. Ich sehe das erste Mädchen, das während des Gehens nur aufs Handy schaut. Ein Mofafahrer biegt nach rechts ab, ein Hermesauto fährt von dort in den Seltersweg. Komisch, sieht von hinten eher wie ein Müllfahrzeug aus. Ein grauhaariger Mann schiebt seinen Rollator zügig vorwärts, trägt auch im Freien eine FFP2-Maske. – Der Verkäufer wechselt Preisschilder aus, ab und zu ein Hinweis in Grün “ich bin vegan”. – Eine junge Frau schiebt mit einer Postkarre vorbei, eine Schiebermütze auf dem Kopf, die linke Hand gefüllt mit Briefen. Um 9.15 stellen sich zwei türkische Frauen gegenüber ans Schaufenster. Um 9.35 stehen sie immer noch dort. Offenbar warten sie auf die Geschäftsöffnung um 10.00 Uhr. Relativ viele übergewichtige junge Leute laufen vorbei, etliche jetzt schon mit Gehbehinderung. Wie wäre es mit ein paar Trimmdich-Geräten am Kreuzplatz wie die in der Wieseck-Aue? – Ein Sprinter mit dem Aufdruck einer Baufirma.
9.20 Uhr, ich muss bald gehen, meine Parkzeit läuft ab.
TK maxx wirbt mit “Big Labels – Small Prices” und “LOVE GIESSEN”. So weit würde ich nicht gehen. Aber ich fand es recht spannend, mal genauer hin zu sehen.
Der Himmel wird heller. Sogar einige Vögel sind zu hören. Eine Stunde später kommt die Sonne heraus.

Gießen, einstmals eine sehr schöne Stadt; zu 3 “Hake”: Eine Skulptur gleichen Namens steht im Anlagenring hinter dem Blumen Korso
Gefällt mir! Ein Grund für einen Schaufensterbummel
Das um 1650 errichtete Gasthaus “Zum Löwen”, in das Goethe nachweislich 1772 einkehrte. Im Vordergrund der “Gärtnerbrunnen”. Er wurde von der Sparkasse Gießen in Auftrag gegeben und 1984 aufgestellt, Künstler Karl Ulrich Nuss, Stuttgart

Alle Fotos Eveline Renell

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